Fessenheim, ein diplomatischer Störfall


Fessenheim, Frankreichs ältestes Atomkraftwerk an der deutschen Grenze, ist 2020 stillgelegt worden. Neue Pläne für das Gelände sorgen nun erneut für Spannungen und machen Fessenheim zum Symbol eines anhaltenden Nachbarschaftskonflikts.

Mathilde Stöber

Fünf Jahre nach der Stilllegung des AKW erlebt man im elsässischen Fessenheim aktuell ein Wiederaufleben der Debatte um die Zentrale. „Die Spannungen von damals sind vor Ort noch immer spürbar“, sagt Elise Julien, Historikerin und Expertin für deutsch-französische Beziehungen. Der Grund: Der Energiekonzern EDF plant auf dem Gelände eine Anlage zur Verwertung radioaktiver Metalle. Konkret geht es um eine Schmelzanlage für schwach radioaktiv belasteten Schrott. Vor allem in Deutschland regt sich Widerstand – und Fessenheim wird erneut zum Symbol der unterschiedlichen Energiepolitiken beider Länder. „Fessenheim war Frankreichs ältestes und störanfälligstes Atomkraftwerk. Die Nähe zur deutschen Grenze verstärkte die Angst vor einem Unfall – spätestens seit der Nuklearkatastrophe in Fukushima“, sagt Anna Deparnay-Grunenberg, trinationale Politikerin und frühere Europaabgeordnete der Grünen.

Fessenheim-Aus: Ein Zugeständnis an Deutschland?

Nach jahrelangem Widerstand konkretisieren sich die deutschen Forderungen für eine Schließung von Fessenheim schließlich unter Angela Merkel. Mit den Worten „Ein bedeutender Tag für die deutsch-französische Freundschaft“, beginnt die ehemalige Bundeskanzlerin am 22. Januar 2019 ihre Rede bei der feierlichen Unterzeichnung des deutsch-französischen Freundschaftsvertrags in Aachen. Weniger feierlich dürften die Verhandlungen im Vorfeld gewesen sein. Erst einen Tag vor der Unterzeichnung einigen sich Unterhändler*innen beider Regierungen auf eine Liste mit rund 15 „vorrangigen Projekten“, die sofort umgesetzt werden sollen. Deutschland drängt darauf, das AKW Fessenheim als vorrangiges Projekt festzulegen – Frankreich stimmt zu. Denn Emmanuel Macron erfüllt damit nicht nur eine deutsche Forderung, sondern vollendet auch das Vorhaben seines Vorgängers François Hollande. „Die Abschaltung von Fessenheim war aber schon vor dem Vertrag von Aachen beschlossen“, erklärt Historikerin Elise Julien. Tatsächlich hatte François Hollande bereits 2012 angekündigt, das AKW zu schließen – als Zugeständnis an die Grünen. Ein konkreter Zeitrahmen fehlte jedoch, absehbar war nur eine Stilllegung bis spätestens 2022. Am Ende ging es schneller: Nach 43 Jahren Betrieb wurden beide Reaktoren von Fessenheim im Juni 2020 endgültig abgeschaltet – wenige Monate nach der Vertragsunterzeichnung. 

Doch zu einer engeren deutsch-französischen Zusammenarbeit in der Energie-Politik führte die Abschaltung von Fessenheim nicht. Hinter verschlossenen Türen soll Emmanuel Macron nach der Vertragsunterzeichnung gesagt haben, er habe das AKW nur geschlossen, um Deutschland einen Gefallen zu tun. Für Historikerin Elise Julien eine Selbstinszenierung: „Er gibt sich eine Rolle, die er nicht hatte. Die Entscheidung war längst gesetzlich verankert, bevor er ins Amt kam. Es war nicht so, dass er mit einem Zauberstab die Schließung von Fessenheim beschlossen hat.“

„Die Energie-Politiken könnten nicht unterschiedlicher sein“

Auch die in Aachen beschlossenen Pläne für einen grenzüberschreitenden Wirtschafts- und Innovationspark scheitern. Das binationale Projekt sollte die wirtschaftlichen Folgen der Stilllegung abfedern und Raum für nachhaltige Technologie schaffen. Doch Frankreich zog sich zurück. „Obwohl es Pläne gab, entschied sich die französische Regierung am Ende anders“, sagt Anna Deparnay-Grunenberg. „Warum Frankreich aus den Arbeitskreisen zur Nachnutzung ausgestiegen ist – und warum Deutschland nicht genug getan hat, um das zu verhindern –, kann ich bis heute nicht nachvollziehen.“ Beim Thema Fessenheim und Energiepolitik, so die Politikerin, habe man „inzwischen auf beiden Seiten des Rheins akzeptiert, dass man da nicht zusammenkommt“.

Nicht nur lokal, auch auf nationaler Ebene driften Deutschland und Frankreich in der Energiepolitik auseinander. Seit dem Reaktorunglück von Fukushima 2011 setzt Deutschland auf die Energiewende und den vollständigen Atomausstieg. Frankreich hingegen schaltet seine AKWs nur in Ausnahmefällen ab. „Deutsche und französische Energiepolitik könnten heute nicht unterschiedlicher sein“, sagt Elise Julien. Für Anna Deparnay-Grunenberg spiegeln sich darin auch die Unterschiede in der politischen Kultur beider Länder wider: „Erneuerbare Energien wie Photovoltaik und Windkraft sind in Deutschland näher an den Menschen und weniger zentral steuerbar. Französische AKWs hingegen werden direkt von Paris aus gelenkt.“

Deutschland kauft Atomstrom aus Frankreich

Die Unterschiede zeigen sich auch in den Zahlen: Frankreich gewinnt rund 70 % seines Stroms aus Kernenergie, Deutschland setzt zu etwa 60 % auf erneuerbare Energien. Der Rest kommt aus Kohle und Atomstrom-Importen – größtenteils aus Frankreich. Trotzdem sieht Anna Deparnay-Grunenberg darin keine Abhängigkeit von französischem Atomstrom. „Wir haben einen europäischen Strommarkt. Deutschland ist heute nicht abhängiger von Frankreichs Atomkraftwerken als von polnischen Gaskraftwerken oder schweizer Wasserkraft.“ Tatsächlich stammten 2022 laut Tagesschau nur 0,4 % des in Deutschland genutzten Stroms aus französischer Atomkraft. Trotzdem – oder gerade deshalb – will Deutschland die Atomkraftwerke selbst und ihre radioaktiven Reste nicht direkt an der Grenze – wie in Fessenheim.

Fessenheim : 42 Jahre in Betrieb
Das Atomkraftwerk Fessenheim ging 1978 ans Netz – von Beginn an umstritten wegen seiner Lage direkt am Rhein. Als ältestes und leistungsschwächstes Kernkraftwerk Frankreichs sorgte es immer wieder für Störungen. 2014 geriet ein Reaktor nach einem Wassereinbruch für mehrere Minuten außer Kontrolle und musste abgeschaltet werden. Nach jahrzehntelangen Protesten wurden beide Reaktoren 2020 endgültig stillgelegt.